Perspektivwechsel – Sachsens Ministerpräsident zu Gast in der Kita Koboldland
Die Aktion "Perspektivwechsel" der Liga der Freien Wohlfahrtspflege bietet Vertreter*innen aus Politik,Verwaltung, oder der Wirtschaft die Möglichkeit, für einen Tag in sozialen Einrichtungen und Diensten mitzuarbeiten. Den Teilnehmenden eröffnet sich die Möglichkeit, die Leistungen sozialer Arbeit besser zu verstehen und das eigene Handeln aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
Am 28. Juni 2023 besuchte der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen im Rahmen der Aktionswoche die Kita „Koboldland“ des Omse e.V. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Terminverpflichtungen eines Ministerpräsidenten war im Vorfeld ein Kurzbesuch von 90 Minuten vereinbart worden. Eigentlich zu wenig, um einen Eindruck von den tatsächlichen Abläufen in einer Kita zu gewinnen. Kita-Leiter Andreas Warschau versuchte noch, den Besuch wenigstens bis in die Mittagsphase auszudehnen, denn erfahrungsgemäß ist das eine der stressigsten Zeiten im Tagesablauf. Da ist man für jede helfende Hand dankbar, und sei es die eines hochrangigen Politikers…
Gleich zu Beginn konfrontierte Andreas Warschau den Ministerpräsidenten mit der grafischen Darstellung der Personalausfallzeiten in der Kita „Koboldland“, die im Foyer der Einrichtung für alle sichtbar aushängt. Im Durchschnitt der ersten beiden Quartale fehlten von den 21 pädagogischen Fachkräften täglich mehr als 5,5 aus den unterschiedlichsten Gründen: Urlaub, Krankheit, Weiterbildung – wir nennen das „UKW“. Dazu kommt noch der Abbau von Überstunden, und da wir im Augenblick zwei Kolleginnen in der berufsbegleitenden Ausbildung haben, die an einem oder zwei Tagen in der Woche in der Schule sind, kommen die auch noch dazu.
Entspannt ging es dann hinaus in den Garten. Die Kita Koboldland verfügt über ein ziemlich großes Außengelände mit über 5.000 Quadratmetern für 131 Kinder. Davon zeigte sich auch der Ministerpräsident beeindruckt und mischte sich gleich unter die Kinder, von denen einige gerade dabei waren, aus im Garten gefundenen Naturmaterialien kleine Kunstwerke zu gestalten.
Der größte Teil der Zeit verging recht schnell mit anregenden Gesprächen zwischen Kita-Leiter und Ministerpräsident über die Probleme und Herausforderungen der frühkindlichen Bildung in Sachsen und welche Stellschrauben hier auf Landesebene gedreht werden können und müssen. Andreas Warschau hatte eine ganze Liste von Themen notiert, die während des Rundgangs im Garten alle zur Sprache kamen: Neben der schon genannten Berücksichtigung von Ausfallzeiten im Betreuungsschlüssel spielte natürlich der Dauerbrenner „Personalschlüssel“ und die ungenügende Zeit für mittelbare pädagogische Tätigkeit eine Rolle. Dass in Sachsen immer noch Kollegen in der berufsbegleitenden Ausbildung von Anfang an vollständig in den Personalschlüssel einberechnet werden und die Ressourcen für die Praxisanleitung, die in den Kindertagesstätten praktisch nebenher geleistet wird, liegt Andreas Warschau besonders schwer im Magen. Er beklagte auch, dass es Ende Juni immer noch keine Förderrichtlinie zur Qualitätsverbesserung in Kitas gibt, obwohl die Haushaltsmittel hierfür schon lange beschlossen sind.
All das sind natürlich keine neuen Probleme, sondern Themen, um die wir schon seit Jahren kämpfen. Aber die Möglichkeit, die mal „ganz oben“ anzubringen, sollte eben auch nicht ungenutzt verstreichen – immer auch in der Hoffnung, dass ein solcher Perspektivwechsel auch den ein oder anderen Prozess beschleunigt.
Außerdem wurde viel über Bildungsverständnis und Gesellschaftspolitik diskutiert. Neben dem Aspekt, dass sich das „Koboldland“ als Natur-Kindertagesstätte versteht und dem Lernen in der Natur und von der Natur einen großen Stellenwert einräumt, steht hier auch das Motto von Maria Montessori „Hilf mir, es selbst zu tun!“ ganz weit oben im pädagogischen Selbstverständnis. Wenn wir im Kindergarten die Kinder sich zu freien, selbständigen und selbst die Welt entdeckenden Wesen entwickeln lassen, können wir die Hoffnung auf positive Veränderungen im gesellschaftlichen Zusammenleben haben. Diese Kinder, so Andreas Warschau, werden hoffentlich nicht darauf angewiesen sein, jemandem hinterherzulaufen, der meint, alles für sie regeln zu können. Gerade in Zeiten notwendiger Transformationen ist es wichtig, Menschen Selbstvertrauen und die Fähigkeit zu demokratischen Aushandlungsprozessen zu geben, und die Grundlage dafür wird schon in der frühen Kindheit gelegt. Sicher: ein ziemlich großer inhaltlicher Bogen von der Kita zur Gesellschaftspolitik. Aber Michael Kretschmer erwies sich als geduldiger Zuhörer, und vielleicht hat er ja – neben den ganz pragmatischen Botschaften, wie sich Rahmenbedingungen in Kitas ändern müssen - auch diese Gedanken mit in die Staatskanzlei genommen.
Zum Schluss hat er dann doch noch die geplanten 90 um 30 Minuten überzogen. Der Kelch der stressigen Mittagszeit ging aber knapp an ihm vorüber. Zum Abschied lud der Ministerpräsident die Kinder zum Gegenbesuch in die Staatskanzlei ein. Da soll es dann Nudeln geben. Ich hoffe, ihm ist klar, dass wir Koboldländer solche Angebote immer annehmen.
Andreas Warschau
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